Wie die Industrie unseren Heißhunger steuert

Rezension zu: “Brainwashed. Wie Lebensmittelindustrie unser Glücksempfinden verändert, mit Werbung unsere Bedürfnisse manipuliert — und wie wir uns dagegen wehren können”

168 Stunden verbringen wir jährlich im Supermarkt. 638,7 Stunden gehen jährlich auf Essen und Trinken zurück. Mal davon ganz abgesehen, wie oft wir an Essen denken, Einkaufslisten schreiben und uns Gedanken machen, was wir kochen beziehungsweise schnell in der Mikrowelle erwärmen oder in den Backofen schieben möchten. 

Die Lebensmittelindustrie greift uns diesbezüglich gerne unter die Arme und sie geht noch weiter, sie manipuliert uns und gaukelt uns durch spezifische neurofunktionale Techniken vor, worauf wir Lust haben sollten. Dies geschieht still und heimlich. In unserem Gehirn spielen sich biochemische Prozesse ab. Wie diese Prozesse aussehen, wie sie uns beeinflussen und wie sie unser Verhalten steuern können, erklärt Robert Lustig in seinem Buch. 

Robert Lustig, amerikanischer Kinderarzt und Autor des Buches „Brainwashed. Wie Lebensmittelindustrie unser Glücksempfinden verändert, mit Werbung unsere Bedürfnisse manipuliert — und wie wir uns dagegen wehren können“, zeigt darin wie sich unser Gehirn aus der biochemischen Perspektive täuschen lässt. Ohne die Herangehensweise des Autors in Frage zu stellen, denn da überzeugt er voll und ganz, ist der Leser zunächst nach wenigen Seiten und dann auch schon nach vielen Seiten irritiert und dann enttäuscht. Anders als der Titel des Buches es vermuten lässt, geht es gar nicht primär um die Lebensmittelindustrie und noch viel weniger um ihre spezifischen Tricks. Ein Blick auf den Originaltitel löst das Rätsel schließlich auf: The Hacking of the American Mind: The Science Behind the Corporate Takeover of Our Bodies and Brains.  

Die Werbung (also die Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche) auf dem Buch erinnert schon fast an das Suppentütchen mit dem Huhn (Auflösung: Die Suppentüten haben nie ein Huhn gesehen). Nichtsdestotrotz lassen sich die Behauptungen des Autors auf die Lebensmittelindustrie übertragen, dann allerdings in Eigenregie. 

Das Fundament, auf dem das Buch aufbaut, ist zunächst das Wissen und die Unterscheidung der beiden Begriffe „Vergnügen“ und „Glück“ und dessen biochemische Prozesse im Gehirn. Vergnügen wird als Belohnung verstanden, ist von kurzer Dauer und erfolgt im Zusammenhang mit Erregung instinktiv. Das Belohnungssystem wird durch den Botenstoff Dopamin ausgelöst. Das Gefühl von Zufriedenheit (also Glück), welche im Gegenzug dazu eine Konstante ist, wird hingegen durch den Botenstoff Serotonin ausgelöst. Die Industrien, ganz gleich, was sie uns verkaufen möchten, versuchen durch das Neuromarketing das Belohnungssystem der Verbraucher anzusprechen. Dabei sind sie erfolgreich. Eine Unmenge von Dopamin wird ausgeschüttet. Coca Cola wirbt mit Lebensfreude und Optimismus, die auf den Genuss des Getränkes zurückzuführen ist. Dabei wird unterschlagen, was eigentlich tatsächlich zu dieser Freude führt: Maissirup mit hohem Fruchtzuckergehalt, Phosphorsäure, Kohlensäure, Salz, Zuckercoleur etc. Die Zutaten verschaffen ein kurzfristiges Vergnügen. Aber auch McDonald’s mit seiner Kampagne „Ich liebe es“. Die Kampagnen sind nicht zufällig und zielen auf Umsatz und glücklich-unglückliche Kunden ab: Happy Meal suggeriert Positives (Zucker und Fett werden selbstverständlich nicht erwähnt). Plastikspielzeug legt McDonald’s nicht aus Liebe hinein. Höchstens aus Liebe zum Umsatz. McDonalds verkauft bis zu 3,2 Millionen Happy Meals am Tag. Jeden Tag wird so viel Dopamin ausgeschüttet und die Kinder wollen immer mehr. Im Erwachsenenalter hören sie auch nicht auf. 

Die Folgen sind umso gefährlicher. Das Hauptargument von Lustig ist die Gefahr, die vom kurzzeitigen Vergnügen ausgehen kann, welches von den Industrien herbeigeführt wird und dass diese uns bewusst das Gefühl von Zufriedenheit vorgaukeln. Er spricht anschaulich von einer Glockenkurve: „In der Mitte liegt der Idealpunkt. An allen anderen Stellen handelt es sich um das Spiel mit dem Feuer“ (Lustig 2018: 46). Denn Stoffe wie Zucker, Alkohol, Heroin, die in uns das gewisse Etwas auslösen (nun haben wir endlich ein Wort dafür: Vergnügen) bergen auch eine Gefahr für Abhängigkeit. Sie haben einen Einfluss auf unsere psychische und physische Gesundheit. Dieser Strategie bedienen sich alle Branchen: Facebook belohnt uns mit Likes, wir scrollen uns unermüdlich durch Instagram, werfen Münzen in Glückspielautomate, freuen uns auf den Marketingtrick von Happy Hours und können unser Handy gar nicht mehr aus der Hand legen. Das waren jetzt nur ein paar Beispiele. Die Liste könnte ebenso unermüdlich fortgesetzt werden. 

Der Argumentation, die Lustig im Sinne der Glockenkurve führt, stimme ich zu. Leider fasst sich der Autor in manchen Ausführungen (meist dann, wenn es gerade richtig spannend wird) zu kurz: Mit welchen Mitteln lösen Marketingkampagnen in uns Vergnügen oder Angst aus? Wenn wir Zucker essen, triumphiert Dopamin in unserem Gehirn. Groupon versucht uns weiß zu machen, dass wir genau dieses eine Schnäppchen brauchen und Facebook und andere soziale Medien wollen, dass wir ständig online sind. Aber wie kommt Zucker zu uns? Was setzt Groupon ein, damit wir buchen? Was genau macht Facebook mit uns, ohne das wir es merken? Die Wirkung dieser Beispiele sind nicht neu, allerdings ist das Backstage des Neuromarketings an dieser Stelle wichtig, um ein umfassenderes Verständnis des ganzen Prozesses (oder Teufelskreises um die Ausschüttung der Botenstoffe) zu bekommen.

Die Biochemie in unserem Gehirn können wir verändern, so der Autor. Er nennt auch ein paar Beispiele, wie etwa sich ehrenamtlich engagieren, da dies unserem Leben mehr Sinn verleihen würde und untermauert seine These mit einer Studie die besagt, dass das Sterberisiko so um 22 Prozent geringer sei. Des Weiteren gibt er das Geheimnis für ein glückliches Leben preis: „Kochen Sie selbst“ (S. 298). Das leuchtet ein, man weiß schließlich dann wie viel Zucker man reingibt. 

Ich stimme dem sehr gerne zu. Doch das Ende erinnert unweigerlich etwas mehr an einen Happy-Ratgeber als ein wissenschaftliches Fazit. Selbstverständlich hat der Autor nicht den Anspruch eines wissenschaftlichen Papers, deshalb sollte ihm dies nicht zu sehr zur Last gelegt werden. Doch was fehlt, ist der Appell an ein kritischeres Bewusstsein, um bestmöglich aus der vergnüglichen Dopaminfalle herauszukommen oder sie zu erkennen, bevor sie zu schnappt. Verstehen, warum Cola nicht gesund ist, welche Inhaltsstoffe sich in einer Tütensuppe verstecken, und das kritische und wache Bewusstsein beim Einkaufen.

Brainwashed. Wie Lebensmittelindustrie unser Glücksempfinden verändert, mit Werbung unsere Bedürfnisse manipuliert — und wie wir uns dagegen wehren können von Dr. Robert H. Lustig. riva Verlag, Münchner Verlagsgruppe.