“Socken ausziehen und ins Gras setzen”

“Ich denke, wenn wir uns mehr mit der Natur verbinden könnten, würden wir den Drang verlieren, mehr zu kaufen…”, sagt die Nachhaltigkeitsberaterin in der Textil- und Lederindustrie Nina Conrad. Im Interview spricht sie über Fibershed DACH, ihr persönliches Engagement und worauf wir beim Kauf von Kleidung, Schuhen und Accessoires achten sollten.

  1. Was ist Fibershed DACH genau?

Das Wort “Fibershed” ist ein englischer Begriff und bedeutet “Fasereinzugsgebiet”. Damit ist eine Region gemeint, in der bestimmte textile Rohstoffe zur Verfügung stehen und um die sich über Jahrhunderte eine Kulturgemeinschaft gebildet hat. Diese Kultur ist uns durch eine globalisierte textile Handelskette und den Siegeszug der synthetischen Fasern in den vergangenen Jahrzehnten abhandengekommen. Fibershed DACH stellt sich der Aufgabe, die übriggebliebenen Fragmente einer regionalen und der Natur zugewandten Textilkultur wieder zu verbinden. Wir haben den Verein vor 1,5 Jahren gegründet und arbeiten darauf hin, dass die gesamte Herstellung der Textilien – vom Rohstoff zum fertigen Kleidungsstück – wieder in unserer Region stattfinden kann. Denn erst, wenn sich die textile Kette auf kleinräumiger Ebene etabliert und wirklich regional produziert wird, potenzieren sich die positiven Effekte von lokalen natürlichen Materialien. 

  1. Gibt es Unterschiede zwischen den Fibershed-Netzwerken in den USA und Europa – was ist wo einfacher und/oder schwieriger?

Der Hauptunterschied betrifft die Materialien, die uns zur Verfügung stehen, denn die klimatischen Bedingungen in Europa sind teilweise anders als in den USA. In Deutschland, Österreich und der Schweiz können wir keine Baumwolle anpflanzen, dafür haben wir ideale Bedingungen für Flachs, aus dem Leinen hergestellt wird. Aber auch Tiere haben verschiedene klimatische Bedürfnisse, weshalb wir in Europa andere Schafrassen haben als in den USA. Wo es einfacher oder wo schwieriger ist, lässt sich so nicht sagen. Aber sowohl in den USA wie auch in Europa wurden viele Schritte der Textilherstellung aus der Region ausgelagert. Deshalb bemühen sich alle Fibershed-Organisationen gleichermassen, wieder zu einer lokalen Textilproduktion zurückzukehren und die Möglichkeiten einer möglichst vollstufigen regionalen Lieferkette auszuloten: von der Landwirtschaft zur Faser, über die Gewinnung und Veredelung bis hin zum fertigen Produkt.

  1. Was ist eure konkrete Aufgabe – wie vernetzt ihr die unterschiedlichen Gewerke und wo liegen dabei die Herausforderungen?

In einem ersten Schritt erfassen wir die verschiedenen Produzent:innen im Online-Verzeichnis auf unserer Website. Wir möchten damit aufzeigen, aus welchen Akteur:innen sich unser Fibershed-Netzwerk zusammensetzt. Dieses frei zugängliche Verzeichnis gibt allen, die lokal produzieren möchten, einen ersten Einblick in die bereits vorhandenen Materialien und Verarbeitungsmöglichkeiten.

Um Netzwerke innerhalb unseres Fibersheds zu fördern, werden wir Stammtische und Gruppen organisieren. Jedes Treffen wird ein spezifisches Material oder Handwerk thematisieren, so dass sich interessierte Personen und Betriebe treffen, austauschen und gegenseitig inspirieren können.

Indem wir als Anlaufstelle für alle Akteur:innen aus unserer Region fungieren, vernetzen wir auch ganz direkt zwischen einzelnen Personen. Hier liegt auch unsere grösste Herausforderung: Wie können wir das alles möglichst ressourcenschonend machen, solange wir alle ehrenamtlich arbeiten.

  1. Was ist das Ziel von Fibershed DACH für die nächsten zwei Jahre? 

Die wichtigsten Ziele für die nächsten zwei Jahre sind der Ausbau unseres Netzwerks, auch über die Produzent:innen hinaus. Wir sind gerade dabei, Kursangebote, Projekte, Brands, Designer:innen und Künstler:innen aus der DACH-Region zu erfassen und auf unserer Website zu präsentieren. Auch ein Blog mit vielen Hintergrundthemen ist in Planung. Darüber sowie durch unsere Social-Media-Präsenz möchten wir möglichst viele Leute erreichen und sie für das Thema sensibilisieren und begeistern.

Momentan sind wir auch dabei, ein Fundraising für unsere Arbeit und diverse Projekte, die wir bereits initiiert haben, auf die Beine zu stellen. Zudem werden wir Bildungsangebote zusammenstellen, um auch an Schulen, Hochschulen und anderen Institutionen die Menschen über die Möglichkeiten zu informieren, die es in unserer Region gibt. 

  1. Praktischer Tipp für jeden einzelnen von uns: Was können wir tun, um Fast Fashion auszubremsen?

Wie beim Kauf von Lebensmitteln ist es beim Kauf von Kleidung, Schuhen und Accessoires möglich, sich über das Herkunftsland, die Materialzusammensetzung und die Verarbeitung zu informieren. Man kann gezielt Marken und Hersteller unterstützen, die in Europa – oder in unserer Region – produzieren, die Materialien möglichst naturbelassen anbieten und wertige Produkte herstellen, die lange benutzt und oft repariert werden können. Auf Handwerkermärkten oder auch über das Internet kann man immer mehr kleine Betriebe finden, die Produkte selbst herstellen und mit grosser Transparenz anbieten. 

Und, wann immer man die Möglichkeit dazu hat: Schuhe und Socken ausziehen und sich mit blossen Füssen ins Gras setzen, und all die Schönheit aufnehmen, die einen umgibt. Ich denke, wenn wir uns mehr mit der Natur verbinden könnten, würden wir den Drang verlieren, mehr zu kaufen… Das ist etwas, was jede und jeder tun kann, unabhängig von seinem Einkommen oder seiner Lebenssituation.